Inklusion im Kinderschutz

Ein Kind ist ein Kind - unabhängig von seiner sozialen oder kulturellen Herkunft, seinem Geschlecht, religiöser oder politischer Anschauung, Sprache, Glaube oder einer möglichen Behinderung. Dieser Grundsatz gilt insbesondere auch in Hinblick auf den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gewalt bzw. grenzüberschreitendem Verhalten und somit der Wahrung ihrer körperlichen, gesitigen und seelischen Unversehrtheit.

Dennoch werden vor allem die besonderen Schutzbedürfnisse junger Menschen mit Behinderung die eine seelische, körperliche, geistige oder Sinnesbeeinträchtigung haben, häufig vernachlässigt, übersehen oder sogar vergessen.

Nachfolgend finden Sie Informationen und Hinweise zum Schutzauftrag gegenüber einer besonders vulnerablen Zielgruppe.

Was bedeutet „Behinderung“?

Der heute selbstverständlich verwendete Begriff „Behinderung“ ist vergleichsweise jung. Historisch betrachtet, war der Begriff stets mit einer negativen Konnotation verbunden, die auf eine defizitäre Abweichung zu einer gesundheitlichen Norm abstellt und Leid, Schmerzen sowie Abhängigkeit impliziert.

Mit der Verabschiedung des Übereinkommens der Vereinten Nation über die Rechte von Menschen mit Behinderung (VN-BRK) im Jahr 2006, erfolgte ein Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik. Danach zählen zu den Menschen mit Behinderungen Personen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. Das reformierte Sozialgesetzbuch (SGB) – Neuntes (IX) Buch begreift Behinderung somit nicht mehr als Eigenschaft und Defizit einer Person, sondern betrachtet eine gesundheitliche Beeinträchtigung im Zusammenspiel mit Kontextfaktoren sowie mit den Interessen und Wünschen des betroffenen Menschen – kurzum: man ist nicht behindert, man wird behindert.

Die gesetzliche Begriffsbestimmung im SGB IX lautet wie folgt:

Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können(§ 2 Abs. 1 SGB IX).

Gesetzliche Grundlagen zum inklusiven Schutzauftrag

Mit der Ratifizierung des Übereinkommens über die Rechte des Kindes der Vereinten Nationen (VN-KRK) 1992 hat sich die Bundesrepublik Deutschland u.a. dazu verpflichtet, „ (…) alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmaßnahmen (zu treffen), um das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschließlich des sexuellen Missbrauchs zu schützen (…)“ (vgl. Art. 19 VN-KRK).

Mit der Ratifikation der VN-BRK im Jahre 2009 wurde die Bedeutung des geltenden Auftrags in Bezug auf die besonderen Schutzbedürfnisse von Menschen mit seelischen, körperlichen, geistigen und Sinnesbeeinträchtigungen, noch einmal explizit betont.

Vor dem Hintergrund beider Konventionen und Anbetracht des gesetzlichen Schutzauftrags bei Kindeswohlgefährdung (KWG) gemäß § 8a Sozialgesetzbuch (SGB) - Achtes (VIII) Buch sowie den Regelungen zu Beratung und Übermittlung von Informationen durch Geheimnisträgerinnen und Geheimnisträger bei Kindeswohlgefährdung gemäß § 4 Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) ergibt sich letztendlich der ‚inklusive Schutzauftrag‘.

Seither wurde der Kinderschutz durch Gesetzesänderungen und Anpassungen kontinuierlich ausgebaut, aktualisiert und konkretisiert, zuletzt durch das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) im Juni 2021. Ein zentrales Anliegen der Novellierung und den resultierenden Änderungen ist die inklusive Ausrichtung des SGB VIII und somit auch des Kinderschutzes, vor allem in

Gesetzliche Regelungen, die den besonderen Schutzbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung Rechnung tragen:

Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigung – eine besonders vulnerable Personengruppe

Die Ergebnisse einer WHO-Studie1 zeigen, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderung im Durchschnitt ein 3,6-fach höheres Risiko haben, Opfer von Gewalt bzw. grenzüberschreitendem Verhalten zu werden, als Kinder und Jugendliche ohne Beeinträchtigung. Das Gefährdungspotenzial ist von der Art der Beeinträchtigung, dem Alter sowie dem Geschlecht abhängig.

Das Risiko für Kinder und Jugendliche mit Behinderung fällt je nach Form der Gewalt und Behinderung unterschiedlich hoch aus2:

Emotionale/Psychische Gewalt

Das Risiko für Kinder und Jugendliche mit Behinderung ist in diesem Bereich durchschnittlich2,19-fach höher als für gleichartige ohne Behinderung. Abhängig von der Art der Behinderung ergeben sich folgende Faktoren:  

  • Kinder und Jugendliche mit Mehrfachbehinderung: Faktor 1,41
  • Kinder und Jugendliche mit kognitiver oder Lernbehinderung: Faktor 3,32
  • Kinder und Jugendliche mit psychischer Behinderung: Faktor 3,53
  • Kinder und Jugendliche mit körperlicher/motorischer Behinderung: Faktor 1,93
  • Kinder und Jugendliche mit Sinnesbehinderung: Faktor 1,85
  • Kinder und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen: Faktor 1,22

Sexualisierte Gewalt

Das Risiko für Kinder und Jugendliche mit Behinderung ist in diesem Bereich durchschnittlich 2,19-fach höher als für gleichartige ohne Behinderung. Abhängig von der Art der Behinderung ergeben sich folgende Faktoren:  

  • Kinder und Jugendliche mit Mehrfachbehinderung: Faktor 1,63
  • Kinder und Jugendliche mit kognitiver oder Lernbehinderung: Faktor 2,37
  • Kinder und Jugendliche mit psychischer Behinderung: Faktor 2,12
  • Kinder und Jugendliche mit körperlicher/motorischer Behinderung: Faktor 1,64
  • Kinder und Jugendliche mit Sinnesbehinderung: Faktor 1,85

Körperliche Gewalt

Das Risiko für Kinder und Jugendliche mit Behinderung ist in diesem Bereich durchschnittlich 2,16-fach höher als für gleichartige ohne Behinderung. Abhängig von der Art der Behinderung ergeben sich folgende Faktoren:  

  • Kinder und Jugendliche mit Mehrfachbehinderung: Faktor 1,46
  • Kinder und Jugendliche mit kognitiver oder Lernbehinderung: Faktor 3,10
  • Kinder und Jugendliche mit psychischer Behinderung: Faktor 2,25
  • Kinder und Jugendliche mit körperlicher/motorischer Behinderung: Faktor 1,93
  • Kinder und Jugendliche mit Sinnesbehinderung: Faktor 1,85
  • Kinder und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen: Faktor 1,15

Vernachlässigung

Das Risiko für Kinder und Jugendliche mit Behinderung ist in diesem Bereich durchschnittlich 2,32-fach höher als für gleichartige ohne Behinderung. Abhängig von der Art der Behinderung ergeben sich folgende Faktoren:  

  • Kinder und Jugendliche mit Mehrfachbehinderung: Faktor 1,72
  • Kinder und Jugendliche mit kognitiver oder Lernbehinderung: Faktor 2,00
  • Kinder und Jugendliche mit psychischer Behinderung: Faktor 2,39
  • Kinder und Jugendliche mit Sinnesbehinderung: Faktor 1,85

Mobbing (Peers)

Das Risiko für Kinder und Jugendliche mit Behinderung ist in diesem Bereich durchschnittlich 1,85-fach höher als für gleichartige ohne Behinderung. Abhängig von der Art der Behinderung ergeben sich folgende Faktoren:  

  • Kinder und Jugendliche mit Mehrfachbehinderung: Faktor 1,79
  • Kinder und Jugendliche mit kognitiver oder Lernbehinderung: Faktor 2,07
  • Kinder und Jugendliche mit psychischer Behinderung: Faktor 1,76
  • Kinder und Jugendliche mit körperlicher/motorischer Behinderung: Faktor 1,98
  • Kinder und Jugendliche mit Sinnesbehinderung: Faktor 1,85
  • Kinder und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen: Faktor 1,19

Misshandlung innerhalb einer Beziehung

Das Risiko für Kinder und Jugendliche (unter 18 Jahre) mit Behinderung ist in diesem Bereich durchschnittlich 4,05-fach höher als für gleichartige ohne Behinderung. Abhängig von der Art der Behinderung ergeben sich folgende Faktoren:  

  • Kinder und Jugendliche mit Mehrfachbehinderung: Faktor 3,38
  • Kinder und Jugendliche mit psychischer Behinderung: Faktor 2,39

 

 

Weiterhin konnte festgestellt werden, dass Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigung unabhängig von der Form der Gefährdung ein hohes Risiko haben, mehrfach Opfer von Gewalt zu werden und mehrere Formen von KWG zu erleben4.


Quellennachweise:

1Jones, L. et. al. (2012): Prevalence and risk of violence against children with disabilities: a systematic review and meta-analysis of observational studies. In: The Lancet Vol. 380, Issue 9845. S. 899 - 915

Fang et. al. (2022): Global estimates of violence against children with disabilities: an updated systematic review and meta-analysis. In: The Lancet Child & Adolescent Health. Volume 6, Issue 5, May 2022, S. 313-323.

3 Sullivan, P.M. & Knutson, J.F. (2000): Maltreatment and disabilities: a population-based epidemiological study. In: Child Abuse & Neglect. S. 1257 - 1273.

4 BMAS (2016): Zweiter Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen. S. 406.

Grundlegende und spezielle Risikofaktoren für Kinder und Jugendliche mit Behinderung

Bei dem Begriff Kindeswohl handelt es sich um einen sogenannten unbestimmten Rechtsbegriff. Der Begriff Kindeswohl ist nicht in einem gesetz definiert. Jedoch ergeben sich aus der VN-KRK, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie dem Deutschen Recht Anhaltspunkte, anhand derer das Wohl eines jeden Kindes beurteilt wird. Solche Anhaltspunkte sind

  • die körperliche, geistige und seelische Unversehrtheit,
  • das Heranwachsen zu einer selbstständigen und verantwortungsbewussten Person,
  • die Stabilität und Kontinuität der Beziehungen zu sorgeberechtigten Personen sowie
  • die angemessen Berücksichtigung und Achtung des Kindeswillen bei allen sie betreffenden Entscheidungen.

Die Gegebenheiten, die einem Kind zum Leben zur Verfügung stehen, entsprechen nicht immer diesen Anforderungen. Unter besonders nachteiligen Umständen spricht man von Faktoren, die das Risiko der Entstehung einer Kindeswohlgefährdung begünstigen. Das Gefährdungspotenzial dieser grundsätzlichen Risikofaktoren ist dabei für Kinder und Jugendliche mit Behinderung deutlich höher. Faktoren, die für alle Kinder und Jugendlichen ein Risiko darstellen, sind beispielsweise der Umgang mit Nähe und Distanz in Einrichtungen, massive Konflikte zwischen Eltern oder anderen Familienangehörigen oder auch soziale Isolation. Darüber hinaus gibt es nach Fegert1 eine Vielzahl an Faktoren, die insbesondere für Kinder und Jugendliche mit Behinderung ein zusätzliches Risiko darstellen können wie beispielsweise:

Physische, psychische und pädagogische Faktoren

  • beeinträchtigungsbedingte (physische und emotionale) Abhängigkeit von möglichen Tätern (Familie, pflegenden und betreuende Personen etc.)
  • mangelndes Wissen über die eigene Rechte bedingt durch Abhängigkeit
  • eingeschränkte physische (motorisch-anatomisch) und psychische (Vokabular, geringere Gedächtnisleistung) Kommunikationsfähigkeiten
  • gering ausgebildete Sozialkompetenzen
  • fehlende Kenntnisse über Abwehrstrategien und Fertigkeiten zum Selbstschutz
  • Absprechen jeglicher Sexualität und unzureichende sexuelle Aufklärung
  • wenig Selbstsicherheit
  • schwach ausgebildetes Urteilsvermögen und damit verbundene Schwierigkeiten in Entscheidungsprozessen
  • teilweise fehlende Akzeptanz gegenüber dem eigenen Körper
  • schwach bis nicht ausgeprägte Bewältigungsstrategien und Emotionsregulierung

Infrastrukturelle und gesellschaftliche Faktoren

  • diskriminierende gesellschaftliche, kulturelle und familiäre Vorbehalte gegenüber Menschen mit Beeinträchtigung 
  • gesellschaftliche Isolation in Verbindung mit ausgeprägtem Bedarf an Zuwendung/Zuneigung
  • geringe Zuschreibung von Zurechnungsfähigkeit/Glaubwürdigkeit durch Gesellschaft
  • Vergessen, Vernachlässigung und Unterdrückung von Sexualität in Einrichtungen
  • fehlendes oder kompliziertes Beschwerdemanagement
  • mangelnde Partizipation
  • geringe Aufdeckungsquote von (vor allem sexuellen) Missbrauch
  • ausgeprägte familiäre, institutionelle und gesellschaftliche Fremdbestimmung und Überregulation

Quellennachweis:

1Fegert, J.M. et. al. (2014): Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen: Ein Handbuch zur Prävention und Intervention für Fachkräfte im medizinischen, psychotherapeutischen und pädagogischen Bereich. S 408 ff.